Kommentar: In Marokko ist noch alles möglich
aus "Naher und Mittlerer Osten ("Aschark")", eine Website die ich sehr empfehle:
http://www.alsharq.de/2012/01/kommentar-in-marokko-ist-noch-alles.html#more
aus "Naher und Mittlerer Osten ("Aschark")", eine Website die ich sehr empfehle:
Liebe Leserinnen und Leser,
anders
als in Tunesien blieb in Marokko ein politischer Umsturz aus.
Allerdings hat sich eine Bewegung gebildet, die sich für politische
Reformen und mehr Demokratie einsetzt: Die Bewegung des 20. Februar,
benannt nach dem Tag, an dem Tausende Marokkaner auf die Straßen gingen
und auf friedliche Weise grundlegende Freiheiten einforderten. Es folgt
ein Bericht eines Aktivisten der Bewegung des 20. Februar.
Von Mehdi Bouchoua
25. Dezember 2011, Rabat.
Um
16 Uhr befindet sich bereits ein Dutzend junger Menschen der Bewegung
des 20. Februar auf dem Bab Al Ahad-Platz und bereitet die erste
Demonstration vor, seitdem die Islamisten von Al Adl Wal Ihsan (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit) - die größte politische Strömung Marokkos - der Bewegung des 20. Februar ihre Unterstützung entzogen haben.
Alle
sind besorgt, denn es könnte das Ende der Bewegung bedeuten, die am 20.
Februar 2011 als Reaktion auf den Arabischen Frühling entstanden ist
und die den Marokkanern Hoffnung auf einen wahren Wandel und auf ein
Ende der Despotie sowie der Korruption gegeben hat.
Diese Bewegung hat sich von Beginn an für tiefgreifende Reformen, und nicht für den Sturz der Monarchie ausgesprochen.
Vielmehr zielt sie auf die Errichtung einer parlamentarischen Monarchie ab, bei der alle Gewalten vom Volk ausgehen.
Das
marokkanische Regime ist ein semiautoritäres System, das - je nachdem -
politische Gegner verprügeln lässt, oder wenn es opportun erscheint
Zugeständnisse macht. In den letzten zehn Monaten schwankte es zwischen
dieser doppelzüngigen Strategie von Zuckerbrot und Peitsche hin und her,
um die Protestbewegung so gut es geht zu neutralisieren und nicht das
Los der großen arabischen Diktatoren zu erleiden.
Was wurde bislang erreicht?
Auf der politischen Ebene wurde
eine neue Verfassung verabschiedet, die dem Parlament mehr Macht
verleiht und Fortschritte im Bereich der Einhaltung der Menschenrechte
und der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen mit sich bringt.
Allerdings wird auch die neue Verfassung von der Opposition abgelehnt,
da es sich um eine von oben „bewilligte“ Verfassung handelt, die nicht
vom Volk ausging und bei der der Großteil der Macht weiterhin in den
Händen des Königs bleibt.
Außerdem
fanden vorgezogene Wahlen statt, die den Islamisten der PJD (Partei für
Gerechtigkeit und Entwicklung) zum ersten Mal erlaubten, 107 Sitze im
Parlament zu gewinnen, eine Regierung zu bilden und diese zu leiten.
Auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene wurden Gehaltserhöhungen
für Angestellte des öffentlichen Dienstes verfügt, einige Arbeitslose
wurden für den öffentlichen Dienst rekrutiert und Jobversprechen an weitere Gruppen gegeben.
Das
alles ist den Opfern junger Aktivisten zu verdanken, die bereits neun
Märtyrer in ihren Reihen zählen: Fünf durch Selbstverbrennung im Kontext
der Ausschreitungen des 20. Februar, eine junge alleinstehende Mutter,
die sich am 21. Februar nach dem Beispiel Mohammed Bouazizis ebenfalls
das Leben durch Selbstverbrennung nahm, zwei Aktivisten, die von den
Sicherheitskräften zu Tode geprügelt wurden und außerdem ein Aktivist,
der durch einen Regimeanhänger erdrosselt wurde. Nicht zuletzt müssen
auch politische und Gewissensgefangene genannt werden, wobei Mouad
Belghouate alias HAKED (der Empörte), Rapper und Aktivist, seit drei
Monaten ohne Gerichtsverfahren inhaftiert ist ….
16:10 Uhr:
Die Demonstration beginnt, ca. Hundert Menschen sind schon da, singen
Loblieder für die Märtyrer und fordern eine wahre Demokratie, soziale
Gerechtigkeit und Gleichheit, während weitere Demonstranten dazu stoßen.
16:30 Uhr:
Der Demonstrationszug bewegt sich in Richtung Parlament, wir sind ca.
3000 Demonstranten. Die jungen Menschen sind froh, niemand hatte mit so
vielen gerechnet, nachdem die Islamisten abgesprungen waren. Noch
besser, jetzt können wir Slogans für die Gleichberechtigung zwischen
Männern und Frauen singen, wir können auf der Straße tanzen, uns in den
Arm nehmen, ohne den Groll islamistischer Demonstranten auf uns zu
ziehen.
Gesichter,
die aufgrund der Teilnahme der Islamisten die Bewegung verlassen
hatten, sind wiederaufgetaucht, Feministinnen und linke Intellektuelle
sind präsent und der Hauptslogan aller Teilnehmer lautet «MAMFAKINCH! »
(Wir geben nicht auf!).
18 Uhr:
Ende der Demonstration, Abschlussrede eines Jungen aus unserer
Bewegung. Unser Kampf für Gleichheit, Freiheit und soziale Gerechtigkeit
geht weiter. Unsere Strategie ist klar definiert: den Druck der Straße
aufzubauen und so viele Bürger wie möglich zu mobilisieren, es lebe das
Volk!
19 Uhr:
Die jungen Menschen finden sich in Internetcafés ein und versuchen
Informationen über die Demonstrationen herauszufinden, die parallel in
61 anderen Städten des Königreiches stattgefunden haben. – Von überall
liest man gute Nachrichten: Casablanca 10.000 Demonstranten, Tanger
30.000….
In Marokko ist noch alles möglich, die Bewegung 20. Februar geht aus jeder Krise gestärkt heraus.
Sicher,
es wird weniger mobilisiert als früher, die Marokkaner warten darauf,
welche Reformen ihnen die islamistische Regierung bieten kann und die
anderen Islamisten aus der Opposition haben sich aus Solidarität mit
ihren regierenden Brüdern aus der Bewegung zurückgezogen.
Es gibt gleichwohl schlechte Entwicklungen:
Der
König hat ein Schattenkabinett errichtet und von den Marokkanern
verhasste Symbolfiguren für Korruption wie Fouad Ali Lhimma als
Berater eingesetzt. Nicht zuletzt hat er entgegen der neuen Verfassung
29 Botschafter ernannt, da die neue Konstitution diese Aufgabe für den
Premierminister vorsieht. In der neuen Regierungskoalition
soll außerdem die Istiqlal-Partei vertreten sein, die mehrheitlich aus
korrupten Politikern besteht, welche die Marokkaner anwidern.
Schließlich
steht eine Wirtschaftskrise bevor, da über 70% der Handelsgeschäfte
Marokkos mit der Europäischen Union getätigt werden, welche derzeit eine
große Krise durchläuft. Der Grad an politischem Bewusstsein der
Marokkaner nimmt dank der Protestbewegung stetig zu. Überall in der
Peripherie Marokkos entstehen spontane Bewegungen, die korporatistische Forderungen wie das Recht auf eine Wohnung, vereinen.
Das
Bild Marokkos als Ausnahme in der arabischen Welt, das die Autoritäten
mit Hilfe von katarischen und europäischen Medien von sich zeichnen
möchten, wird nicht lange halten können… alles ist noch möglich!
Übersetzung aus dem Französischen von Naoual Belakhdar.