respect existence or expept resistance

Enjoy Capitalism

Enjoy Capitalism

Montag, 19. März 2012

Heroinvergabe und Drogenhilfe

Eine Lobby verrät ihre Klientel

 


Der Krieg gegen die Drogen ist auch in Deutschland immer noch ein Krieg gegen die Abhängigen. Deren Leben bleibt geprägt von Kriminalisierungsdruck, Inhaftierung, Obdachlosigkeit, Psychiatrisierung, Viren- und anderen Infizierungen, sozialer und körperlicher Verelendung, Vertreibung, „Junkie-Jogging“, Platz- und Aufenthaltsverboten, Ingewahrsam- und Festnahmen (oft ausschließlich, weil sie als störend visualisiert werden) und einer "Schimanskisierung polizeilicher Verfolgung" (Wolfgang Schneider). Von den ca. 64 000 Häftlingen in Deutschen Justizvollzugsanstalten sitzen etwa die Hälfte "wegen oder mit Betäubungsmittelgesetz-Hintergrund".


In Deutschland leben etwa 200 000 Heroin- und Opiat-Abhängige, in Köln 2500 bis 3000, knapp ein viertel Prozent der Bevölkerung, in der EU plus Norwegen sind es etwa 1,5 Millionen Menschen, von denen ca. 15 000 jährlich an den Folgen ihrer Suchterkrankung sterben.



Abstinenz oder "beigebrauchsfreie" Substitution sind keine Alternativen

Neben der gewaltigen Repressionsmaschinerie hat sich ein nicht minder aufgeblähter "Hilfskomplex" entwickelt, für den die deutschen Sozial- und Rentenversicherungsträger jährlich etwa 10 Milliarden (10.000.000.000) Euro ausgeben; gemessen an den marginalen Erfolgen eine ernüchternde Bilanz. Als das Scheitern der Abstinenz-Ideologie nicht mehr zu übersehen war, wurde zwar mit Fixerstuben, Spritzentausch, Cafés und Notschlafstellen etwas Sozialkosmetik verwirklicht, der Grundsatz "Abstinenz oder Strafe" aber nie wirklich aufgegeben, sondern nur um einige Zugeständnisse "aufgeweicht". So werden inzwischen zwar etwa 60 000 Abhängige von ca. 2000 Ärzten in Deutschland meist mit Methadon substituiert, doch die drogenpolitische Realität lässt immer noch ausschließlich Abstinenz oder "beigebrauchsfreie" Substitution als Pseudo-Alternativen zu. Präventiv-medizinischen Ziele, Überlebenssicherung der Patienten und sozialpolitische Schadensminimierung spielen weiter nur eine Nebenrolle.

"Schimanskisierung polizeilicher Verfolgung"

Eine Studie mit dem Titel "Einstellungen und Vorurteile substituierender Ärzte" dokumentiert ein erschreckend "breites Spektrum negativer Einstellungen und Defizite in großen Teilen der substituierenden Ärzteschaft". Mangelhaftes Wissen über die Substanzwirkungen, strikte Durchsetzung eigener, oft willkürlicher Regeln und häufig lebensgefährliche Behandlungsabbrüche als Sanktion für Heroin-Rückfälle gehören zum grauenhaften Alltag solcher ‚Drogenbewirtschaftung’. Straßen-Heroin bleibt das Problem auch in der Substitution, die daher geprägt ist durch tägliche, kontrollierte Einnahme in den Praxen und einem regelrechten Wettrüsten beim Nehmen und Fälschen von Urinproben.





Nicht weniger repressiv sind die (Teil-)Entgiftungsstationen in den geschlossenen Psychiatrien und die Deutschen Drogentherapien, die bei 90 % Ihrer Klientel als Hafterleichterung fungieren, und schon deshalb kaum als unabhängig vom Justiz- und Vollzugsapparat bezeichnet werden können.

Die drogenpolitische Revolution von 2009

Doch es hat sich - bisher weitgehend unbeachtet - eine kleine drogenpolitische Revolution in Deutschland ereignet: 2009 wurde - auf maßgeblichen Druck der Grünen aber auch Teilen der SPD, der FDP und der Linken - das Gesetz zur diamorphingestützten Behandlung  ("Heroinvergabe") verabschiedet. 2010 wurde Diamorphin (synthetisches Heroin) in den Leistungskatalog der Kassen aufgenommen.
Jahrelange Studien in sieben deutschen Großstädten hatten bei etwa 500  Schwerstabhängigen beeindruckend deutlich die Vorteile des Diamorphins gegenüber Methadon nachgewiesen. Der Gesundheitszustand der Probanden verbesserte sich deutlich, der Konsum von Straßenheroin ging auf Null zurück, ebenso fast die Beschaffungskriminalität und sogar die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hatte sich mehr als verdoppelt. Fast schon euphorisch liest sich im Beschluss des Bundesgesundheitsministeriums von Mai 2009, den Kosten einer Heroinbehandlung stünden pro Patient "Einsparungen in Höhe von insgesamt 10000 Euro pro Jahr" gegenüber.


Lasst die Ärzte endlich ihren Job machen

Die Tür zur Originalstoffvergabe war aufgestoßen, die jahrzehntelange Forderung der Vertreter einer akzeptanzorientierten Drogenpolitik war erfüllt und damit das Ziel in erreichbarer Nähe, dem Drogenhandel (im Heroin- und Opiatbereich) die Grundlage zu entziehen, die Zahl der Drogentoten und die Beschaffungskriminalität zu minimieren, die offenen Drogenszenen aufzulösen, kurz: sämtliche Probleme, die mit Straßenheroin und dessen Konsum einhergehen, zu minimieren oder ganz zu lösen.
Doch was wurde aus dieser Chance bisher gemacht? Die sieben bisherigen Vergabestellen blieben zwar in Betrieb, doch in keiner der übrigen 73 deutschen Großstädte, geschweige in kleineren Kommunen, wurde bisher auch nur eine einzige Vergabestelle eingerichtet! An den Zugangskriterien kann es kaum liegen: die Indikationen erfüllen wahrscheinlich weit mehr als die ursprünglich anvisierten 6000 Patienten.

Oberflächlich wird die hohe Anschubfinanzierung skandalisiert, doch Kosten und Nutzen einer Diamorphin-Vergabe darauf zu reduzieren, wäre betriebs- und volkswirtschaftlicher Unsinn. Tatsächlich liegt die mit etwa 100 000 Euro pro Vergabestelle relativ hoch. Denn nach den strengen, vom LKA zu überwachenden Vorschriften müssen die Räumlichkeiten über höchste Standards mit Videoüberwachung, Sicherheitsglas, Tresoren, Alarmanlagen und einen Sicherheitsring verfügen. Zweifel sind berechtigt, ob - erst recht in Zeiten klammer Kommunen - solcher Aufwand notwendig ist, oder ob ein Tresor und Panzerglas nicht auch ihren Zweck erfüllen würden.
Doch der eigentliche Skandal ist ein anderer: der Apparat sogenannter Drogenhilfen, über Jahrzehnte gewachsen um die Folgeschäden des Straßenheroins zu mindern, scheint sich in Zeiten massiver Kürzungen ganz auf Bestandssicherung und sich selbst zu konzentrieren, und drogenpolitischen Fortschritt nicht als Verpflichtung sondern als Besitzstandsgefährdung zu begreifen. Auf kommunaler Ebene wird sogar nicht selten kaltschneuzig der Bedarf an einer Heroin-Vergabe kategorisch bestritten, und damit der eigene therapeutische und wissenschaftliche Anspruch ad absurdum geführt: Die meisten Abhängigen seien schließlich mit der bisherigen Substitution "gut versorgt" - was nicht nur auf Grund der Studien und Modellprojekte sehr zu bezweifeln ist - und überhaupt sei die Anschubfinanzierung nicht aufzubringen. Solche Ausreden hören Kommunalpolitiker nicht ungern, erst recht, wenn sie von scheinbar unverdächtiger Seite kommen, und die unbestrittenen, immensen Einsparungen, die eine solche Vergabestelle mit sich brächte, nicht unbedingt und nicht direkt das eigene Budget betreffen.





Und so verliefen alle Planungen für die Eröffnung von Diamorphin-Vergabestellen in deutschen Städten bisher im Nichts.

Die Drogenhilfen ziehen "Motivational Interviewing for non treatment seaking people" konkreter medizinischer Hilfe vor

 Nicht die neuesten Studien und Forschungsprojekte über " In-Take-Gespräche", "Motivational Interviewing als Stand-alone-Behandlung" oder "non-treatment-seeking population", keine Seminare über "Genderproblematik im Drogenbereich", "neue Gebrauchsmuster", oder "stand-alone-Intervention zur Stärkung der Motivationsarbeit"; auch nicht die oft unfreiwillige psychosoziale Betreuung von Substituierten, das ausufernde "Case Management" - nicht diese ganze Psychotherapeutisierung der Abhängigen, die ständigen, drehtürmäßigen Einweisungen in Akut-Stationäre-Behandlungen, nicht die unzähligen Therapie- und Substitutionsabbrüche, weder das gesamte, inzwischen unüberschaubare Diagnose- und Methodenarsenal noch die Labortechnik und Pippi-Überwachungsindustrie, nicht all diese und andere unzählige Maßnahmen zur Folgebehandlung und Sanktionierung des Konsums von Straßenheroin! - Nein!! - all das ist nicht zu teuer? Aber die Anschubfinanzierung für eine kostendeckende Diamorphin-Vergabestelle, die soll angeblich den doch generell in der Drogenhilfe so unbescheidenen finanziellen Rahmen sprengen.

Das soziale Phänomen der Drogenszenen und des "Junkies" wird  aufhören zu existieren, 

Wie absurd diese Behauptung ist, beweisen schon die bestehenden Einrichtungen. Es gibt Sponsoren, man kann Vergabestellen an bereits bestehende Einrichtungen angliedern wie in Köln, an Krankenhäuser anschließen wie in Bonn oder den Betrieb sogar der Arbeiterwohlfahrt überlassen wie in Karlsruhe. In kaum einer Kommune geht es wirklich um die 100 000 Euro Anschubfinanzierung, es fehlt offensichtlich an Überzeugung und Mut, im Interesse der Patienten den klar formulierten Willen des Gesetzgebers umzusetzen. Die enormen Einsparungen für die öffentlichen Kassen durch die Einrichtung einer Vergabestelle sind im Übrigen so hinlänglich nachgewiesen, dass jeder, der objektiv die Finanzierungen analysiert, sich ohnehin mehr Sorgen um die Kosten einer Nicht-Umsetzung macht.
Die gesetzliche Möglichkeit der Direktvergabe ist ein historischer Meilenstein der Drogenpolitik, der gegenwärtig um den Preis des Verrats an 40 Jahren medizinischer, politischer, wissenschaftlicher und drogentherapeutischer Arbeit und am verfassungsmäßigen Willensbildungsprozess verpasst zu werden droht.
Das soziale Phänomen der Drogenszenen und des "Junkies" wird in unserer modernen, sozialen Demokratie aufhören zu existieren, sobald die Kommunen die Ärzte nun endlich ihren gesetzlich vorbeschriebenen Job machen lassen. Die nachgewiesenen enormen Einsparungen werden dringend benötigt, und das unwürdige, kleinkriminelle und verwahrloste Milieu in unseren Innenstädten wird der Vergangenheit angehören.




Die Richtlinien zur Heroinvergabe werden gegenwärtig vom Kassen-Ausschuss (GB-A) überarbeitet. Einige unnötige Hindernisse – z. B. dass die Vergabe täglich 12 Stunden unabhängig von den Öffnungszeiten besetzt sein muss – werden wegfallen. Auf die vorgegebenen Sicherheitsstandards hat der Kassen-Ausschuss keinen Einfluss. Aber vielleicht darauf, den Kommunen logistische Unterstützung zu kommen zu lassen, vielleicht sogar den Aufbau solcher Vergabestellen, die auch neue Arbeitsplätze schaffen, zu standardisieren und von zentraler Stelle zu unterstützen.



Ärztekammer, Polizeipräsidenten, Sozial- und Berufsverbände: An einige neue Verbündete muss man sich als Junkie noch gewöhnen
Die Heroin-Süchtigen finden sich in der paradoxen Situation wieder, inzwischen zwar starke Verbündete zu haben in Sozialverbänden, der Bundesärztekammer, in vielen Berufsverbänden wie denen der Deutschen Psychiater und der Psychotherapeuten, in vielen Bundes- und Landespolitikern, ja sogar in Polizeipräsidenten. Die etablierten Drogenhilfen und lokalen Politiker aber stehen dem epochalen Wandel, der Verwirklichung der Direktvergabe, weitgehend  gleichgültig, hilflos oder ablehnend gegenüber.

Mangelnder politischer Sachverstand im Kommunalen Bereich lässt Fortschritte im Drogenbereich scheitern

Unzählige Schwerstabhängige in Deutschland warten verzweifelt auf die Umsetzung des Gesetzes. Einschlägige Internetforen quellen über von Leidensgeschichten über verstorbene Abhängige, verzweifelte Angehörige und Substituierte und wütenden oder ohnmächtigen Hilfeschreien. Menschen, denen gesetzlich seit Jahren qualifizierte medizinische Hilfe zusteht, diese aber bisher konsequent und fast bundesweit verweigert wird.


Eine bedeutende Errungenschaft urbaner Zivilisation endlich wieder entdeckt; (was ist eigentlich aus der bisherigen Scheiße in 40 Jahren Drogenhilfe geworden?)
So sieht moderne Sozialpolitik aus, wenn ideologischer Pragmatismus auf drogenpolitischen Unverstand trifft                                 Krefeld/Theaterpatlz                                                                                        

Die Kommunen wenden seit Jahren viel Zeit, Geld und Personal auf, um einen Reparatur- und Kontrollbetrieb rund um die Drogenszenen aufrecht zu erhalten. Und auch der Polizeiapparat ist - mal unwillig mal enthusiastisch - nicht untätig, Schwerstabhängige wegen geringster Konsumeinheiten zu verfolgen. Da wird es mit den Gesetzen dann oft weniger genau genommen. Doch mit immer mehr Schwarzen Sheriffs, illegaler Videoüberwachung, Razzien und zweifelhaften Entziehungen von Grundrechten werden gewiss keine drogenpolitischen Fortschritte erzielt.

Bedeutende politische Gesetzesgebung droht an mangelndem lokalen drogen- und rechtspolitischem Sachverstand zu scheitern. 


Karl Karam, Krefeld, Köln, seit 21 Jahren opiatabhängig