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Dienstag, 3. April 2012

Heroinvergabe und Drogenhilfe


 Eine Lobby verrät ihre Klientel

Graffiti in Köln      http://www.flickr.com/photos/15667997@N08/4996626278/


Der Krieg gegen Drogen...

  ... ist auch in Deutschland immer noch ein Krieg gegen die Abhängigen. Deren Leben bleibt geprägt von Kriminalisierung, Inhaftierung, Obdachlosigkeit, Psychiatrisierung, sozialer und körperlicher Verelendung, Vertreibung, Platzverboten und Festnahmen. Von den ca. 64.000 Häftlingen in deutschen Jugendgefängnissen sitzen etwa die Hälfte im Zusammenhang mit Drogen.
In Deutschland leben über 150.000 Heroin-Abhängige, in der EU plus Norwegen sind es ca. 1,5 Millionen etwa ¼ % der Bevölkerung, von denen bis zu 20.000 jährlich in der EU-Statistik der Drogentoten auftauchen.
Neben der Repressionsmaschinerie hat sich ein kaum weniger aufgeblähter Hilfskomplex entwickelt, für den die deutschen Sozial- und Rentenversicherungsträger jährlich etwa 10 Milliarden Euro zahlen. Mittlerweile werden etwa 75.000 Abhängige meist mit Methadon substituiert und seit Jahren „niedrigschwellige“ Angebote wie Fixerstuben, Spritzentausch, Cafés und Notschlafstellen ausgebaut. Doch der Grundsatz „Abstinenz oder Strafe“ wurde nie wirklich aufgegeben. Präventiv-medizinische Ziele, Überlebenssicherung und sozialpolitische Schadensminimierung haben es weiter schwer sich durchzusetzen.

Abstinenz oder „beigebrauchsfreie“ Substitution als einzige Behandlungsalternativen

Auch wenn Heroinsucht längst als Krankheit anerkannt ist, finden sich Abhängige in der Behandlungspraxis immer noch mehr in der Rolle des zu bestrafenden Kriminellen als der des Patienten wieder. Eine Studie mit dem Titel "Einstellungen und Vorurteile substituierender Ärzte" dokumentiert ein erschreckend "breites Spektrum negativer Einstellungen und Defizite in großen Teilen der substituierenden Ärzteschaft". Mangelhaftes Wissen über die Substanzwirkungen, strikte Durchsetzung oft willkürlicher Regeln und häufig lebensgefährliche Behandlungsabbrüche als Sanktion für Heroin-Rückfälle oder sonstigen „Beigebrauch“ gehören zum Alltag solcher ‚Drogenbewirtschaftung’. Straßenheroin bleibt das Problem auch in der Substitution, die daher geprägt ist durch ein regelrechtes Wettrüsten beim Nehmen und Fälschen von Urinproben.
Nicht weniger repressiv sind die (Teil-)Entgiftungsstationen in den geschlossenen Psychiatrien und die Drogentherapien, die bei 90 % Ihrer Klientel als Hafterleichterung fungieren, und schon deshalb als Teil des Justiz- und Vollzugsapparats bezeichnet werden müssen. Dass selbst der Strafvollzug nicht drogenfrei ist, dokumentieren Untersuchungen, nach denen über 50 %, in einzelnen Gefängnissen bis zu 95 % der Insassen harte Drogen konsumieren.
Tausenden Patienten wird die medikamentöse Alternative zur Todesdroge Straßenheroin (hier nachgestellt) bisher verweigert – mit katastrophalen Folgen

Die drogenpolitische Revolution von 2009

Doch es hat sich bisher weitgehend unbeachtet eine kleine drogenpolitische Revolution in Deutschland ereignet: 2009 wurde auf maßgeblichen Druck der Grünen aber auch Teilen der SPD, der FDP und der Linken das Gesetz zur diamorphingestützten Behandlung ("Heroinvergabe") verabschiedet. 2010 wurde Diamorphin in den Leistungskatalog der Kassen aufgenommen, aber Verschreibungsfähigkeit ohne aufwendige Vergabestellen wie in England ist bisher am Widerstand der SPD gescheitert.
Jahrelange Studien in sieben deutschen Großstädten hatten beeindruckend die Vorteile des Diamorphins gegenüber Methadon nachgewiesen. Der Gesundheitszustand der Probanden verbesserte sich deutlich, Konsum von Straßenheroin und Beschaffungskriminalität gingen auf fast Null zurück, sogar die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hatte sich mehr als verdoppelt. Fast schon euphorisch liest sich im Beschluss des Bundesgesundheitsministeriums vom Mai 2009, den Kosten einer Heroinbehandlung stünden pro Patient jährliche "Einsparungen in Höhe von 10.000 Euro" gegenüber.
Auch in der Politik hatte sich die Überzeugung der Suchtmedizin verbreitet, dass nicht jeder Schwerstabhängige geheilt, also abstinent werden kann. Bei Menschen, die  seit vielen Jahren abhängig sind und Dutzende Entzugs- und Substitutionsversuche hinter sich haben, soll Schadensbegrenzung im Mittelpunkt der Behandlung stehen.
Die Tür zur Originalstoffvergabe war aufgestoßen, und damit das Ziel näher, die gesundheitlichen und sozialen Probleme infolge von Straßenheroin, zu reduzieren. Fast alle damit befassten Berufs- und Sozialverbände, Bundesärztekammer, sogar Polizeipräsidenten begrüßten die Originalstoffvergabe.
Doch was wurde aus dieser Chance bisher gemacht? Die sieben Vergabestellen mit ihren kaum 500 Patienten blieben zwar in Betrieb, doch in keiner der übrigen 73 deutschen Großstädte, geschweige in kleineren Kommunen, wurde bisher auch nur eine einzige Vergabestelle eingerichtet!

Hochsicherheitstrakte für ein Medikament

Nicht zu unrecht wird die hohe Anschubfinanzierung von etwa 300.000 Euro für eine kostendeckende Vergabestelle skandalisiert. Denn nach den strengen, vom zuständigen LKA zu überwachenden Vorschriften müssen die Räumlichkeiten über höchste Standards, über Videoüberwachung, Sicherheitsglas, Tresore, Alarmanlagen und einen Sicherheitsring verfügen. Die Frage drängt sich auf, warum im Gegensatz zu Altersheimen, Krankenhäusern und einigen Arztpraxen, wo ebenso hochpotente Betäubungsmittel gelagert werden, ein solcher, die Kommunen belastender Aufwand nötig sein soll.
Ein weiterer Skandal ist, dass der Apparat sogenannter Drogenhilfen über Jahrzehnte gewachsen um die Folgeschäden des Straßenheroins zu mindern sich in Zeiten massiver Kürzungen ganz mit sich selbst zu beschäftigen scheint, und drogenpolitischen Fortschritt nicht als Verpflichtung, sondern als Besitzstandsgefährdung begreift. Während die Drogenhilfen sich weiter auf die Psychotherapeutisierung der Abhängigen konzentrieren, bestreiten sie auf kommunaler Ebene sogar nicht selten kaltschneuzig den Bedarf an Heroinvergabe oder stehen ihr gleichgültig bis hilflos gegenüber. So führen sie den eigenen Anspruch ad absurdum: Die meisten Abhängigen seien schließlich mit der bisherigen Substitution "gut versorgt". Das ist nicht nur auf Grund der Studien und Modellprojekte sehr zu bezweifeln. Die Anschubfinanzierung sei nicht aufzubringen: Solche Ausreden hören Kommunalpolitiker nicht ungern, erst recht, wenn sie von scheinbar unverdächtiger Seite kommen, und die unbestrittenen, immensen Einsparungen, die eine solche Vergabestelle mit sich brächte, nicht unbedingt und nicht direkt das eigene Budget stärken.
Und da die Abhängigen selbst sowieso niemand fragt, verlaufen alle Planungen für die Eröffnung von Diamorphin-Vergabestellen in deutschen Städten bisher im Nichts.
Initiative von YES-Vision e.V.

Fürchten Besitzstandswahrer in den  Drogenhilfen sinkenden Behandlungsbedarf?

Die oft unfreiwillige psychosoziale Betreuung von Substituierten, die ständigen, drehtürmäßigen Einweisungen in Akut-Stationäre-Behandlungen, die unzähligen Therapie- und Substitutionsabbrüche und Inhaftierungen, das gesamte, längst unüberschaubare Diagnose- und Methodenarsenal, die Labortechnik und Pippi-Überwachungsindustrie, all diese und andere Maßnahmen zur Folgebehandlung und Sanktionierung des Konsums von Straßenheroin   All das ist nicht zu teuer? Aber die Anschubfinanzierung für eine kostendeckende Diamorphin-Vergabestelle, die soll angeblich den finanziellen Rahmen sprengen

Die wirkliche Kostenfalle liegt in der Nicht-Umsetzung des Gesetzes

Wie absurd diese Behauptung ist, beweisen nicht nur die eindeutigen volkswirtschaftlichen Berechnungen sondern auch die bestehenden Ambulanzen. Es gibt Sponsoren, man kann Vergabestellen in bestehende Einrichtungen integrieren wie in Köln, an Krankenhäuser angliedern, oder den Betrieb sogar der Arbeiterwohlfahrt überlassen wie in Karlsruhe. Woran es im kommunalen Bereich wirklich mangelt, sind politischer Wille und volkswirtschaftlicher Sachverstand, der gebietet die Doppelt- und Dreifachbehandlung von Schwerstabhängigen einzuschränken. Alle Kostenträger einschließlich der kommunalen Dienstleister haben es bisher versäumt, im Interesse der Patienten wie der Beitrags- und Steuerzahler die erforderlichen Mittel umzuschichten. Der tatsächliche Schaden für die öffentlichen Kassen liegt in der Nichtumsetzung des Gesetzes.
Um den Preis des Verrats am verfassungsmäßigen Willensbildungsprozess und an 40 Jahren medizinischer, politischer, wissenschaftlicher und drogentherapeutischer Arbeit wird ein historischer sozialpolitischer Meilenstein aufs Spiel gesetzt.

Lasst die Ärzte endlich ihren Job machen

Anstatt die Ärzte ihren gesetzlich vorbeschriebenen Job machen zu lassen, betreiben die Kommunen die Beibehaltung des grauenhaften status quo der Drogenszenen und verelendeten "Junkies". Aber nicht nur die enormen Einsparungen werden dringend benötigt. Dem unwürdigen, kleinkriminellen und verwahrlosten Milieu in unseren Städten muss endlich die ihm zustehende moderne Medikation und Chance zur Reintegration gegeben werden.
Diamorphin für alle, die es brauchen
Unzählige Schwerstabhängige in Deutschland warten verzweifelt auf die Umsetzung des Gesetzes. Einschlägige Internetforen quellen über von Leidensgeschichten über verstorbene Abhängige, wütende oder trauernde Angehörige. Menschen, denen gesetzlich seit Jahren qualifizierte medizinische Hilfe zusteht, wird diese bisher fast bundesweit verweigert. Vielleicht kann der Kassen-Ausschuss, der gegenwärtig die Richtlinien zur Heroinvergabe überarbeitet, dahingehend Einfluss nehmen, dass die Kommunen beim Aufbau von Vergabestellen logistische Unterstützung erhalten.

Polizeiliche Verfolgung ersetzt keine Drogenpolitik

Polizei und Justiz betreiben immer noch enormen Aufwand, um Schwerstabhängige wegen geringster Konsumeinheiten zu verfolgen. Die Kommunen wenden seit Jahren viel Zeit, Geld und Personal auf, um einen Reparatur- und Kontrollbetrieb rund um die Drogenszenen aufrecht zu erhalten. Da wird es mit den Gesetzen nicht immer so genau genommen. Doch mit immer mehr Schwarzen Sheriffs, illegaler Videoüberwachung, Razzien, einer "Schimanskisierung polizeilicher Verfolgung" (Wolfgang Schneider) und zweifelhaften Entziehungen von Grundrechten werden gewiss keine drogenpolitischen Fortschritte erzielt. Bedeutende sozialpolitische Gesetzgebung darf nicht an mangelndem lokalen drogen- und rechtspolitischem Sachverstand scheitern.